Impressionismus: Der Nachimpressionismus - »Eine Harmonie parallel zur Natur«

Impressionismus: Der Nachimpressionismus - »Eine Harmonie parallel zur Natur«
Impressionismus: Der Nachimpressionismus - »Eine Harmonie parallel zur Natur«
 
An der 5. Ausstellung der Impressionisten nahmen 1880 weder Claude Monet noch Auguste Renoir oder Alfred Sisley teil. Nur Camille Pissarro, Berthe Morisot, Gustave Caillebotte und Edgar Degas waren von den Mitstreitern der ersten Gruppenausstellung 1874 übrig geblieben. Zolas Feststellung, die eigentliche Gruppe der Impressionisten bestehe nicht mehr, erwies sich als zutreffend. Denn während gefällige Nachahmer der impressionistischen Großstadt- und Freilichtmalerei in den Pariser Kunstausstellungen Erfolge erzielten, wandten sich die Impressionisten bereits neuen Zielen zu.
 
Monet löste in seinen Bildserien der »Heuhaufen« und »Kathedralen« sowie in den Ansichten seines Gartens und Seerosenteichs in Giverny die Gegenstände weitgehend in subtile, in sich stimmige Farbharmonien. Seine einheitlichen, kommaförmigen Pinselstriche oder seine heftigen Malgesten führten auf der Bildoberfläche ein Eigenleben. Dass Monet die Farbe von der Beschreibung der Dinge befreite, tendierte bereits zur Abstraktion, wie Kandinsky Jahre später fasziniert feststellte. Renoir hingegen, der nach 1880 mehrere Reisen in den Süden unternahm, verfestigte unter dem Eindruck der klassischen, italienischen Kunst die Formen und Linien seiner üppigen Frauenakte. Degas konzentrierte sich auf immer kühner komponierte, linienbetonte Darstellungen von Balletttänzerinnen und sich waschenden Frauen.
 
Den Impressionismus stellten aber besonders jene Maler in Frage, die nicht zu seinen Begründern zählten, sondern ihn erst später kennen gelernt hatten: Paul Cézanne, Paul Gauguin, Émile Bernard, Vincent van Gogh, Georges Seurat und Paul Signac, Henri de Toulouse-Lautrec und der Bildhauer Auguste Rodin sind die wichtigsten Künstler des »Nachimpressionismus«. Ihre Kunst, die sich zeitlich und inhaltlich mit dem Symbolismus überschnitt, überwand zwischen etwa 1880 und 1910 die impressionistischen Prinzipien und formulierte neue künstlerische Standpunkte. Die nur auf flüchtige optische »Impressionen« ausgerichtete Wahrnehmungsweise des Impressionismus und seine betont improvisierende Malweise lehnten die Nachimpressionisten ab. Sie begannen, die impressionistische Farbgebung sowie die Technik des sichtbaren Farbauftrags zu systematisieren und die Bedingungen des Sehens zu analysieren. Ihr Ziel war zunächst, die objektiven und autonomen Gesetzmäßigkeiten der Gestaltungsmittel Farbe und Linie zu ermitteln und sie in einem konzentrierten und methodischen Malvorgang anzuwenden. Dazu stützten sie sich nicht mehr nur auf die eigene Beobachtung der natürlichen Farbphänomene unter freiem Himmel, sondern befragten auch die Werke alter Meister im Louvre, die Bilder und Farbtheorien von Delacroix und vor allem die zahlreichen Schriften der Wahrnehmungsphysiologie und -psychologie.
 
Cézanne hatte die impressionistische Malweise zu Beginn der Siebzigerjahre von Pissarro erlernt. Bereits um 1877 begann er jedoch, den improvisierenden Farbauftrag in gleichmäßige, parallel nebeneinander liegende Pinselschraffuren, später in kompakt verwobene Farbflecken zu ordnen. Zugleich entwickelte er, ausgehend von den farbigen Schatten und Kontrastbeziehungen des Impressionismus, seine Methode der »Modulation«: Plastische Volumen modellierte er durch reine Farben statt durch Mischungen mit Braun. Diese Verfahren waren von unmittelbarer Beobachtung prinzipiell unabhängig. Cézanne konnte sie fortan nicht nur in der Landschaftsmalerei, im Stillleben und im Porträt einsetzen, sondern auch in Gemälden, die er - im Gegensatz zu impressionistischen Gepflogenheiten - aus dem Gedächtnis und der Fantasie malte, etwa in seinen »Badenden«, die von im Louvre ausgestellten Werken inspiriert sind. »Ich wollte«, sagte Cézanne 1906 zu dem symbolistischen Maler Maurice Denis, »aus dem Impressionismus etwas Dauerhaftes machen, wie die Kunst der Museen«.
 
Wesentlich weiter in der Systematisierung der Gestaltungsmittel gingen Mitte der Achtzigerjahre die jungen Pariser Maler Seurat, Georges und Signac, denen sich Pissarro für kurze Zeit anschloss. Sie entwickelten einen exakten, objektiv begründeten »wissenschaftlichen« Impressionismus, dessen wichtigsten Ausgangspunkt die naturwissenschaftlichen Forschungen zur Farbwahrnehmung von Eugène Chevreul, Hermann von Helmholtz und Odgen Rood bildeten. Das im Impressionismus nur angedeutete Prinzip der optischen Mischung von Farben wandten Seurat und Signac nun gezielt an, indem sie in ihren Bildern Farben in genau ausgeklügelten Kontrastbeziehungen als kleine Punkte getrennt nebeneinander setzten. Dabei verwendeten sie die Farben des Lichtspektrums, die sich im Bild gegenseitig steigern und zu einer natürlichen Helligkeit addieren sollten. Seurat nannte seine Methode »Chromo-Luminarismus«, Kritiker tauften sie »Neoimpressionismus«, »Divisionismus« oder »Pointillismus«.
 
Durch Seurats und Signacs Beteiligung an der letzten gemeinsamen Ausstellung der Impressionisten 1886 und durch die Ausstellungen der avantgardistischen Brüsseler Künstlervereinigung »Les XX« fand der Neoimpressionismus schnell eine große Zahl von Anhängern, neben Pissarro unter anderem Maximilien Luce, Théo van Rysselberghe, Henry van de Velde und Henri Edmond Cross. Auch van Gogh, der sich Anfang 1886 für zwei Jahre in Paris niederließ, änderte seine Malerei unter dem Einfluss Pissarros und der neoimpressionistischen Farblehre: Nach dunkelfarbigen, sozialkritischen Bildern von verarmten holländischen Bauern malte er nun impressionistische Motive - Stadtansichten, Stillleben und Porträts - in immer leuchtenderen, reineren Farben. Wie Gauguin, den er im selben Jahr kennen lernte, lehnte van Gogh jedoch die rigide Methodik von Seurat und Signac ab.
 
Der ruhige und regelmäßige Farbauftrag der neoimpressionistischen Maler betonte die Festigkeit und damit die Umrisse der Bildgegenstände, anstatt sie »impressionistisch« in Farbe aufzulösen. Mitte der Achtzigerjahre begannen Seurat und Signac daher, auch die Gesetze und Harmonieregeln der Linie zu erforschen. In Degas, dessen linienbetonte Bilder von jeher eine Sonderstellung innerhalb des Impressionismus eingenommen hatten, aber auch in dem Klassizisten Jean Auguste Dominique Ingres und dem Symbolisten Puvis de Chavannes fanden sie hierfür künstlerische Anknüpfungspunkte. Vor allem aber die ornamentalen, freien Linienschwünge der japanischen Farbholzschnitte gaben ihnen wichtige Anregungen.
 
Um die innerbildliche Harmonie und die zweidimensionale Geschlossenheit ihrer Bilder zu stärken, erforschten die nachimpressionistischen Maler die eigenwertigen, von der unmittelbaren Gegenstandsbeschreibung unabhängigen Gesetzmäßigkeiten der Farb- und Linienwirkung. Sie betonten dabei die Flächigkeit des Bildes als dessen grundlegende Eigenschaft und definierten so das Bild-als-Bild. »Die Kunst ist eine Harmonie, die parallel zur Natur verläuft«, benannte Cézanne mit einer damals geläufigen Wendung den grundsätzlichen Unterschied zwischen Bild und Wirklichkeit. Das gemalte Bild war eine autonome Realität mit eigenen Regeln. Seine Authentizität maß sich nicht mehr an seiner Ähnlichkeit zur äußeren Wirklichkeit. Abbilden konnte die Fotografie besser. Das Gemälde bezog seine Wirkung und seine Wahrhaftigkeit aus anderen Quellen - der inneren Stimmigkeit und der Subjektivität des Künstlers.
 
Die nachimpressionistischen Künstler verstanden sich nicht nur als »Auge«, sondern auch als »Gehirn«. Sie wollten ihre persönliche Sicht der Wirklichkeit, ihre Erfahrungen und Empfindungen nicht nur durch die Motive ihrer Bilder zum Ausdruck bringen, sondern auch direkt in den Farben und Linien. Dieser Subjektivismus wurde zu einem der tragenden Impulse für die Kunst des 20. Jahrhunderts: Van Gogh, Gauguin und Rodin wurden zu wichtigen Vorläufern des Expressionismus. Unter Berufung auf Delacroix und den Dichter Charles Baudelaire schrieben die Künstler den Farben und Farbbeziehungen gefühlsauslösende Wirkungen zu. So gab van Gogh durch gezielt eingesetzte »Bedeutungsfarben« und expressive Farbkontraste seinen emotionalen Eindruck von einem Menschen oder sein intensives Erleben einer Landschaft zu verstehen. Sein Versuch, im Herbst 1888 in Arles gemeinsam mit Gauguin ein »Atelier des Südens« zu führen, scheiterte nach wenigen Wochen tragisch. Doch in der Heilanstalt von Saint-Rémy-de-Provence und unter der Obhut des Arztes Paul Gachet in Auvers-sur-Oise fand van Gogh zu seinem charakteristischen, durch eine expressive Pinselschrift gekennzeichneten Malstil.
 
Auch dem Zusammenspiel der Linien schrieben manche Maler suggestive Wirkungen zu. Seurat und Signac entdeckten in bestimmten Linienkonstellationen Gehalte wie Heiterkeit, Ruhe oder Stolz. Gauguin entwickelte zusammen mit Bernard, Louis Anquetin und Paul Sérusier im bretonischen Künstlerdorf Pont-Aven einen extrem linien- und flächenbetonten Stil. Schwingende, dunkle Konturen, die ein rhythmisches Eigenleben auf der Bildfläche führen, umranden flächige, intensiv farbige Motive in einem Bildraum ohne perspektivische Darstellung. Die Künstler dieser »Schule von Pont-Aven« nannten ihre Methode »Synthetismus«. Mit ihren oftmals religiös-visionären Themen und ihrer erklärten Absicht, weniger nach der Natur als vielmehr aus dem Traum, der Idee und der Fantasie zu schaffen, vertraten sie symbolistische Auffassungen.
 
Jeder nachimpressionistische Künstler fand eigene, charakteristische Motive, die seine Deutung der Wirklichkeit und seine Kunstauffassung in idealer Weise verkörperten: Cézanne die »Montagne Sainte-Victoire« und die Äpfel seiner Stillleben, van Gogh die Sonnenblumen und Zypressen, Toulouse-Lautrec die Welt der Dirnen und des Kabaretts, Gauguin die Motive aus der Bretagne und der Südsee. In diesen Motiven offenbart sich aber auch der Rückzug der Künstler in alternative Lebensräume: in die Provence, in die Welt der Pariser Boheme und der Bordelle, in die Südsee. Hier fanden sie den Nährboden für jene schöpferische Konzentration und Erneuerung, für die geistigen und emotionalen Energien, die sie ihrer Zeit als Alternativen zu menschlichen und gesellschaftlichen Defiziten offerierten. Akzeptiert wurden die Angebote der Künstler, die in der breiten Kunstöffentlichkeit als verschrobene oder sogar verrückte Außenseiter verschrien waren, jedoch erst Jahrzehnte später.
 
Dr. Friederike Kitschen
 
 
Europäische Kunst im 19. Jahrhundert, Band 2: Cachin, Françoise: 1850—1905. Realismus, Impressionismus, Jugendstil. Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 1990—91.
 Hofmann, Werner: Das irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts. München 31991.
 
Malerei des Impressionismus. 1860—1920, herausgegeben von Ingo F. Walther. 2 Bände. Neudruck Köln 1996.
 Rewald, John: Die Geschichte des Impressionismus. Schicksal und Werk der Maler einer großen Epoche der Kunst. Aus dem Französischen. Köln 61995.

Universal-Lexikon. 2012.

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